Was passiert, wenn eine krakenartige Bürokratie mit undurchschaubaren Verfahren auf einen Menschen trifft, der selbst jede Einzigartigkeit vermissen lässt? Der selbst Platzhalter ist und sich in Doppelgänger:innen massenhaft vervielfältigt hat: Also kein Individuum, sondern eher das Ideal bürokratischer Verwaltung?
Regisseurin Pinar Karabulut hat Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ für die Bühne dramatisiert und vervielfacht von Beginn an die Hauptfigur Josef K. – nicht nur mit dem Darsteller-Duo Alexander Angeletta und Bekim Latifi, sondern auch mit vier weiteren Darstellerinnen. Deutlich wird das durch eine identische Kostümierung mit einem knallroten Sci-Fi-Anzug (Kostüme: Teresa Vergho), der Erinnerungen an das Cover von Kraftwerks „Mensch-Maschine“-LP weckt. Diese Setzung hebelt die theatrale Emotionsmaschine gleich zu Beginn aus und erschwert Identifikation oder Empathie erheblich – nimmt aber die Verkürzung Josef K. ernst.
Die Vervielfältigung gehört zu einem spielerischen Ansatz, der der vermeintlich gnadenlosen Stringenz von Kafkas Stück zuwiderzulaufen scheint: Da ist zunächst das Bühnenbild von Michaela Flück mit seinem grünen Hintergrund, vor den sich immer wieder neue Prospekte mit unpersönlichen Fluren und Büros schieben. Ein ständiger Wechsel, der einer Überblendungstechnik ähnelt. Überhaupt wird der filmische Ansatz immer wieder betont. Zu Beginn sieht man K. in seiner spärlichen Behausung aus der Vogelperspektive (Video: Susanne Steinmassl), als ihm zwei Schergen des Systems seine Verhaftung mitteilen, ohne ihn wirklich zu verhaften: Er darf weiterarbeiten. Pinar Karabulut geht aber in ihrem spielerischen Ansatz noch weiter: So wechseln rein choreographische Szenen des sechsköpfigen Ensembles mit einem überlangen Monolog von Bekim Latifi über Untiefen der Justiz ab. Scherzohafte Szenen mit der ebenfalls verdoppelten Leni (Lola Klamroth und Nicola Gründel) entwickeln eine artifizielle Komik, denen wiederum Szenen mit dem eigenartigen Kaufmann (Yvon Jansen) oder dem knallbunt gekleideten Gerichtsmaler Tintorelli (Sabine Weibel) an die Seite gestellt werden. Aus dem Schnürboden reicht zwischendurch Gott seine Hand herab und nimmt Josef K. zwischen zwei Finger, an die der sich kurzzeitig anklammert – metaphysischer Beistand ist aber von dort auch nicht zu erwarten. In diesen Spielmomenten liegt inhärent vielleicht auch ein Einspruch gegen die Zwangsläufigkeit von Kafkas „Prozess“-Maschinerie.
Nicht die Szene auf dem Friedhof, auf dem Josef K. mit seiner eigenen Einwilligung ermordet wird, bildet den Schluss, sondern die Szene mit dem Gefängniskaplan im Dom. Josef K. kriecht auf einem rotglühenden Balken wie in Dantes Höllenkreis entlang. Der Kaplan erzählt schließlich Kafkas berühmte Parabel „Vor dem Gesetz“ von dem Mann, der bis zu seinem Lebensende vor der Gerichtstür sitzt, ohne auf Einlass zu bestehen. Pinar Karabuluts Interpretation strahlt trotz gelegentlicher Unschärfe oder mancher sich dehnenden Passagen eine merkwürdige dunkle Faszination aus – durchaus ähnlich wie Kafkas berühmter Text.
Der Prozess | 4., 17.2. | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Flucht auf die Titanic
„Muttertier“ am Schauspiel Köln – Prolog 03/24
Parolen in Druckerschwärze
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ am Schauspiel Köln – Auftritt 03/24
„Es wird ein Kampf um Vormachtstellung propagiert“
Rafael Sanchez inszeniert „Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Premiere 03/24
Wiederholungsschleife
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 02/24
Standbein und Spielbein
Pinar Karabulut und Rafael Sanchez gehen nach Zürich – Theater in NRW 01/24
„Der Roman lässt mich empathisch werden mit einer Mörderin“
Regisseur Bastian Kraft über „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Premiere 01/24
Ein Martyrium der Erniedrigung
„Kim Jiyoung, geboren 1982“ am Schauspiel Köln – Auftritt 12/23
Ohne Opfer kein Krimi
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Prolog 12/23
Ende der Zivilisation
„Eigentum“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 11/23
Verliebt, verlobt, verlassen?
„Erstmal für immer“ am Schauspiel Köln – Prolog 10/23
Des Königs Tod und des Müllers Beitrag
„Yazgerds Tod“ am Schauspiel Köln – Auftritt 10/23
„Der Eigentumsbegriff ist toxisch“
Regisseurin Marie Bues bringt am Schauspiel Köln „Eigentum“ zur Uraufführung – Premiere 10/23
Zeit des Werdens
„Mädchenschrift“ am Comedia – Theater am Rhein 05/24
Queere Revolution?
Das Sommerblut Kulturfestival 2024 in Köln – Prolog 05/24
„Brisante politische Inhalte, lustvoll präsentiert“
Leiter Haiko Pfost über das Impulse Theaterfestival 2024 in Köln, Düsseldorf und Mülheim a. d. Ruhr – Premiere 05/24
Bitte keine Zuversicht
„Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Auftritt 05/24
Mut zur Neugier
„Temptation“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 04/24
Wege aus der Endzeitschleife
„Loop“ von Spiegelberg in der Orangerie – Theater am Rhein 04/24
Wahllos durch die Zeitebenen
„Schlachthof Fünf“ am Theater im Ballsaal – Auftritt 04/24
„Ich mache keine Witze über die Ampel“
Kabarettist Jürgen Becker über sein Programm „Deine Disco – Geschichte in Scheiben“ – Interview 04/24
Das Theater der Zukunft
„Loop“ am Orangerie Theater – Prolog 04/24
„Wir wissen nicht viel über das Universum“
Ronny Miersch inszeniert „Der Mensch erscheint im Holozän“ am TdK – Premiere 04/24
Für die Verständigung
Stück für Gehörlose am CT – Theater am Rhein 03/24
Im Höchsttempo
„Nora oder Ein Puppenhaus“ in Bonn – Theater am Rhein 03/24