Hölzerne Gebeine lagern schlicht im schwarzen Raum. Es sind Torsi aus Tellern, Gehstöcke und Schusterwerkzeug, Waschbretter, Kellen und Wannen, die darauf warten, träumen zu dürfen. Schmale Eisenketten in symmetrischer Hängung setzen Vertikalen in den Raum, die Glied für Glied mit frei schwebenden, hölzernen Gestalten behängt werden. Es ist eine raumgreifende Installation in der Großausstellung „Wiebke Siem. Das maximale Minimum“ über Siems (*1954) plastisches Werk seit den 80ern, die nach der Präsentation in Den Haag und Salzburg nun als letztes im Kunstmuseum Bonn zu sehen ist. In einer spannenden Atmosphäre zwischen Schlachthaus und Spielplatz, in dem die Schaffenslust um einen Hauch das Unbehagen schlägt, funktioniert etwas, was im Museum doch oft kläglich scheitert: die Besucher:innen werden Teil künstlerischer Ideen. In der Installation „Traum der Dinge“ (2016/22) erschaffen und zerlegen sie mittels hölzerner Versatzstücke Menschenbilder, belustigt oder bedächtig lassen sie selbst komponierte Kreaturen emporwachsen, die dem Geist Magrittes oder Meister Eders entspringen könnten.
Aus der Welt der Alltagsgegenstände unvorhergesehene Erzählungen zu bauen und dabei zugleich Irritation und Spiel zu schaffen – das ist die Signatur der in Kiel geborenen Künstlerin, die sich in jedem der sechs Ausstellungsräume mitteilt. Die Werke, die in Bauhaus-kühler Sachlichkeit, unaufgeregt und doch eigentümlich humorvoll im Raum thronen, stehen für sich. Und sagen allesamt: Die Welt ist mehrdeutig.
Dieses Uneindeutige, Wiebke Siems Ablehnung gegenüber aller Kategorisierung, bezieht sich auf den Kunstbetrieb selbst oder auf geschlechtliche Rollenzuschreibung. Und so erklärt sich auch das leise Unbehagen, das aus dem unschuldigen Ausdruck der pastelligen, mitunter comichaften Plastiken in simplen Formen hervorbricht: Es ist die Befragung und Verrückung von Macht, die Siem inszeniert. Indem Hüte, Küchenutensilien oder Spielzeug durch Vergrößerung, Isolierung oder raumgreifende Komposition verfremdet werden, erhalten Alltagsgegenstände eine Aussagekraft, die über das Funktionale hinausragt und die Frage anstößt: Wer hat die Deutungshoheit über Genie und Wert von Kunst, wer hat die Macht auszustellen, und wer oder was wird deswegen übermächtigt? Die Ermächtigung, die Wiebke Siem der Frau gegenüber ihrem männlich fixierten Bild gibt, ist so leise wie stark. Als „Weibliche Skulptur“ (2008) zum Beispiel: eine schwarze, samtene Figurine mit Schuhen, die sich selbst als Stoff an einer Singer-Nähmaschine verwendet. Die Frau schält sich als eine Doppelfigur aus Gegenstand und Schöpferin der Kunst aus eben dem Gewand des Überholten – dem Geschlechtsklischee – heraus und trägt in ihrer Selbsterhebung noch die Fremdzensur mit sich. Puppen, Masken und Kleider verkörpern im Ouvre immer wieder normierende Zuschreibungen. Sie repräsentieren offen, was in Gesellschaften und in der Welt der Kunst ständig passiert: Wir tun so, als ob. Als ob etwas männlich, etwas genial, etwas exotisch sei.
Und das ist auch in Ordnung, aber bewusst soll es sein. Und in diesem Sinne spielt Wiebke Siem in ihrer plastischen Welt, die vor Mehrdeutigkeit strotzt, gerade weil sie Zeichenhaftes und Glasklares sprechen lässt. In der Spannung zwischen Alltag und Unvorhergesehenem ist es die Farbe der Ironie, die die gesamte Werkschau kleidet. Denn Ironie entsteht genau dazwischen, klafft auf, hell und scharf, wo sich Gegensätzliches irritierend beäugt.
Wiebke Siem. Das maximale Minimum | bis 17.9. | Kunstmuseum Bonn | www.kunstmuseum-bonn.de
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