Sie sehen aus wie Hautpickel mit Stromleitung, kleben den Darstellern  auf Stirn oder Wange, und man bemerkt sie meist erst, wenn sie nicht  funktionieren. Mikroports gehören inzwischen zum Schauspieleralltag und  beschleunigen den Vormarsch der Technik im Theater. Die Bühne als  Bollwerk der Live-Ästhetik – das war einmal. Die Aufrüstung bei  Bühnentechnik und Licht ist selbstverständlich; das Audiodesign, dessen  sich die Industrie schon lange bedient, wird zunehmend auch für die  Theaterregisseure zum willkommenen künstlerischen Ausdrucksmedium  geworden.
Doch wenn Regisseure an Rhein und Ruhr die Stimmen  ihrer Darsteller verstärken, sehen Kulturpessimisten sofort die  Sprechkultur auf der Bühne in Gefahr. Man lästert über  Stimmbandschwächlinge, die nur mittels Technik verständlich über die  Rampe zu kommen und beschwört den Untergang des Bühnenabendlandes  herauf. Toleriert wird allenfalls die Verkabelung von  Freiluft-Veranstaltungen. Tonaufnahmen belegen allerdings, dass sich die  Sprechkultur auf der Bühne seit einhundert Jahren komplett verändert  hat. Wie im Alltag ist Pathos out und Natürlichkeit in. Mikroports  helfen dieser Intimität des Sprechens technisch auf die Sprünge. Das  Flüstern auf der Bühne entfaltet eine ungehörte Intimität, Dialoge  gewinnen eine verblüffende Vertrautheit und Alltäglichkeit des Tons.  Doch die technischen Möglichkeiten stellen auch unsere Wahrnehmung in  Frage. Durch die digitale Soundbearbeitung verliert das Wort seine  primäre Funktion als Sinnvermittler und erobert sich die Dimension des  Klangs als Bedeutungsträger. Ein zweites Paradigma geht dabei mit über  die Wupper: Dass Stimme und Körper eine Einheit bilden müssen. Die  Stimme kann sich sogar von ihrem Träger frei machen und auch vom Akt des  Sprechens entkoppeln – die Verortung in Raum und Zeit wird zum  Spielmaterial.
Was Philosophie, Psychoanalyse und Literatur  längst durchgehechelt haben, vollzieht die Bühne mit Hilfe der  Mikroports nach: Die Stimme löst sich vom Subjekt. Die Dialektik ist  offensichtlich. Einerseits pocht die Stimme auf Sinnlichkeit anstelle  von Bedeutung; andererseits zappelt sie im Netz ihrer technischen  Reproduzierbarkeit. In Köln zuletzt zu sehen bei Jelineks „Die Kontrakte  des Kaufmanns“ oder auch Karin Beiers Inszenierung von „Die  Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen“, die gänzlich auf Sprache  als Medium gesellschaftlicher Verständigung verzichten.
Letztlich  hat der Einsatz von Mikroports auf der Bühne nichts mit der  Kompensation von Defiziten zu tun, sondern spiegelt eine  gesellschaftliche Entwicklung wider, die zwischen Authentizität,  Technisierung der Lebensbereiche und Erprobung künstlerischer  Ausdruckmöglichkeiten changiert. Dass die Bundesregierung kürzlich die  Mobilfunkfrequenzen verscherbelt hat, die die Theater bisher für ihre  Mikroports benutzten, mag die Fetischisten natürlichen Bühnensprechens  freuen, den Einsatz der neuen Technik wird es nicht verhindern.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
 Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich)  unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Kahlschlag in der Freien Szene
Massive Kürzungen der NRW-Kulturförderung drohen – Theater in NRW 06/25
19 neue Standorte
KulturMonitoring in NRW wird ausgeweitet – Theater in NRW 05/25
Nach Entlassung des Intendanten
Das Kölner Theater der Keller mit neuer Führung – Theater in NRW 04/25
Für Kultur im Ruhrgebiet
Land NRW und Regionalverband Ruhr führen Förderprogramm fort – Theater in NRW 02/25
Schutz vor Verdienstausfällen
NRW plant Absicherung für freie Künstler – Theater in NRW 01/25
Offen und ambitioniert
Andreas Karlaganis wird neuer Generalintendant in Düsseldorf – Theater in NRW 12/24
Endspurt für Mammut-Projekt
Beethovenhalle kurz vor der Fertigstellung – Theater in NRW 11/24
Jünger und weiblicher
Neue Leitungsstruktur am Mülheimer Theater an der Ruhr – Theater in NRW 10/24
Überleben, um zu sterben
Bund will bei der Freien Szene kürzen – Theater in NRW 09/24
Bessere Bezahlung für freie Kunst
NRW führt Honoraruntergrenzen ein – Theater in NRW 08/24
Mit allen Wassern gewaschen
Franziska Werner wird neue Leiterin des Festivals Impulse – Theater in NRW 07/24
„Zero Waste“ am Theater
Das Theater Oberhausen nimmt teil am Projekt Greenstage – Theater in NRW 06/24
Demokratie schützen
Das Bündnis Die Vielen ruft zu neuen Aktionen auf – Theater in NRW 05/24
Theatrales Kleinod
Neues Intendanten-Duo am Schlosstheater Moers ab 2025 – Theater in NRW 04/24
Neue Arbeitszeitregelungen
Theater und Gewerkschaften verhandeln Tarifvertrag – Theater in NRW 03/24
„Der Tod ist immer theatral“
Theatermacher Rolf Dennemann ist gestorben – Theater in NRW 02/24
Standbein und Spielbein
Pinar Karabulut und Rafael Sanchez gehen nach Zürich – Theater in NRW 01/24
Das diffamierende Drittel
Einkommensunterschiede in der Kultur – Theater in NRW 12/23
Neues Publikum
Land NRW verstetigt das Förderprogramm Neue Wege – Theater in NRW 11/23
Analoge Zukunft?
Die Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund eröffnet ihren Neubau – Theater in NRW 10/23
Tausch zwischen Wien und Köln
Kay Voges wird Intendant des Kölner Schauspiels – Theater in NRW 09/23
Folgerichtiger Schritt
Urban Arts am Theater Oberhausen – Theater in NRW 08/23
Neue Allianzen
Bühnen suchen ihr Publikum – Theater in NRW 07/23
Interims-Intendant für den Neuanfang
Rafael Sanchez leitet ab 2024 das Schauspiel Köln – Theater in NRW 06/23
And the winner is …
Auswahl der Mülheimer Theatertage – Theater in NRW 04/23