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Viola Neumann
Foto: Thomas Dahl

„Vielleicht wird die Kindheit outgesourct“

26. Juni 2025

Regisseurin Viola Neumann über „Das Experiment“ am Freien Werkstatt Theater – Premiere 07/25

Für die Abschlussinszenierung der Theaterakademie Köln hat Neumann den gleichnamigen Roman von Mario Giordano bearbeitet. Darin nehmen Versuchspersonen an einer psychologischen Studie teil, die sie in Gefangene und Wärter:innen unterteilt.

choices: Frau Neumann, sind Sie bereit für ein Bild-Wort-Experiment?

Viola Neumann: Aber natürlich. Ich bin ein Spielkind.

Ich habe Ihnen eine verbrauchte, braun-rot-weiße Keksdose mitgebracht, in der sich Bilder befinden. Ziehen Sie eines, entfalten es und formulieren unmittelbar ihre Gedanken dazu. Je weniger Sie überlegen, desto besser.

(Neumann zieht und blickt auf ein zerschundenes altes Kuscheltier)
Ich sehe ein wirres Köpfchen, mit gläsernen Augen, die einen grünen Touch haben. Könnte ein Affe, könnte ein Monster sein. Ich sehe Zähne, ich sehe auch ein mögliches Feuer, vor dem die Figur mit Schrecken davonläuft. Wer weiß, was ihm droht, vielleicht wird die Kindheit outgesourct. Ich erkenne sehr buntes Haar, das von Lila- bis zu Weißtönen reicht; das Weiße könnte vom Schrecken des Feuers kommen. Sehe Striemen, die sich wie Schmerzen durch sein Gesicht ziehen. Es könnte auch eine Frau sein, die unter Schock steht; der Blick lässt nicht genau erahnen, was gesehen wird oder ob das Wesen vielleicht blind ist. Die beiden Nasenlöcher könnten auch ein tiefer Schnitt sein, der sich in zwei Richtungen öffnet oder weiße und schwarze Löcher im Universum ... Ich könnte jetzt noch stundenlang so weitermachen, es liegt an Ihnen, zu bestimmen, wie wir nun verfahren.

Wir kommen später auf das Bildnis zurück. In ihrem Stück nehmen Versuchspersonen an einer psychologischen Studie teil, die sie in Gefangene und Wärter:innen unterteilt. Wie impulsiv agieren die Figuren im Stück?

Je nach Entwicklungsphase. Das nimmt seinen dramaturgischen Verlauf. Es gibt aber heftigste Szenen. Die Figuren haben teilweise nicht mehr das Bewusstsein dafür, was sie tun, die Schauspieler:innen, die jetzt ihren Abschluss machen, aber schon. Es ist ein Reagieren aus der Situation heraus.

Der Roman und die Verfilmung von Oliver Hirschbiegel beziehen sich auf eine Studie der US-amerikanischen Universität Stanford von 1971. Damals brach man den Versuch nach sechs von ursprünglich angedachten 14 Tagen aufgrund moralischer Bedenken ab. Inwiefern gehen Sie mit der Inszenierung weiter?

Ich lasse eine Figur sogar einen Text vom deutschen Ethikrat zitieren, was denn eigentlich Ethik ist. Ich denke, dass ich damit in gewisser Weise eine Grenze für die Schauspieler:innen überschreite, weil sie so etwas noch nicht gemacht haben. Ich habe jedoch nicht das Rad neu erfunden. Die Spielenden und die Zuschauer:innen müssen etwas aushalten, wenngleich es neben den heftigen auch sehr zarte Momente gibt.

In der Ankündigung verweisen Sie auf den ersten Artikel des Grundgesetzes und dessen Bruch gleich zu Beginn des Stücks. Ihre Darsteller:innen sind kommende Absolvent:innen der Theaterakademie Köln. Wie eng verbunden sind Staat, Mensch, Würde und Schutz Ihrer Meinung nach in der Sichtweise junger Menschen?

Das kommt aufs Individuum an. Ich hatte das Gefühl, dass es ein paar Schüler:innen gab, die sich dem bewusst sind. Aber oftmals ist das nicht unbedingt in ihrem Alltag präsent, beispielsweise, das sie in einem Staat leben, der es ihnen ermöglicht, Schauspiel zu studieren. Der Staat an sich scheint jedoch immer wieder ein Abstraktum zu sein. Es ist wie mit dem Zahnschmerz. Solange wir den nicht spüren, gehen wir oftmals nicht zum Arzt. Das geschieht erst dann, wenn das Gefühl konkreter wird.

Ließen sich die künstlich geschaffenen Hierarchien zwischen Wärter:innen und Gefangenen auf Ihr Ensemble übertragen, obwohl die Handlung schon bekannt war?

Ja, weil es für die Schauspieler:innen natürlich auch genügend private Momente gab, in denen sie die Rolle abgaben. Einige Schauspieler:innen hatten mit den Rollenverteilungen und den damit verbundene Handlungen der Figuren auch privat zu kämpfen.

Das Prinzip der Unterdrückung erlernen wir bereits im Kindergarten. Der oder die Stärkere gewinnt Hoheit über die begehrtesten Spielsachen. Ist es möglich, Gewaltfreiheit auch spielerisch oder nonverbal zu vermitteln?

Es wird immer mal angedeutet, weil Figuren nicht das Verhalten eines anderen Wärters teilen wollen und sich einer gleichen Handlung verweigern. Die Schauspieler:innen sollten eigene Monologe schreiben, die im weitesten Sinne etwas mit ihrer Figur zu tun haben, um in ihrer Individualität gesehen zu werden. Manchmal geschieht das auch ohne Worte.

Inwiefern ist gerade diese Produktion für die Theaterschüler:innen in Hinsicht auf ihren Beruf wichtig?

Im besten Falle, um den Mut zu finden, sich zu zeigen, auch in der Stille. Ich habe versucht, die Leute wahrzunehmen, wie sie gerade sind. Vielleicht haben sie dadurch auch ihre momentanen Grenzen erkannt. Andererseits haben die Darsteller:innen gelernt, in eine brachiale Körperlichkeit zu gehen, um eine krasse Figur zu zeigen. Das Stück orientiert sich nicht nur an der Vorlage von Giordano, ich habe vieles einfließen lassen.

Das Stück ist für Zuschauer:innen ab 16 Jahren freigegeben. Was zeigen Sie, das nicht schon Grundschüler:innen in sozialen Netzwerken oder Videospielen sehen?

Es werden Formen von Gewalt und subkutaner, also psychologischer Gewalt dargestellt. Wenn jüngere Menschen dieses Stück sehen würden, könnte das schon an die Nieren gehen. Viele sind da noch nicht so abgebrüht, auch wenn es für manche junge Menschen nichts Neues ist.

Welche Rolle hätten Sie selbst in der Geschichte bekleiden wollen, Häftling oder Wärterin?

Schwierig. Beide Seiten sind sehr spannend. Ich glaube, die Wärterin hätte mich mehr interessiert.

Warum?

Weil ich eine sehr körperliche Schauspielerin bin und sich die betreffenden Figuren in einem inneren Widerstand befinden.

Übrigens, in der Keksdose befanden sich ausschließlich Ansichten von in Mitleidenschaft gezogenen Spieltieren. Erkennen Sie einen Bezug zu Ihrem Theaterstück wieder?

Aha. Ja. Das Stofftier impliziert für mich Kindheit. Es liegt etwas Heilsames, Vertrautes darin. Im Verlauf des Stückes müssen alle Teilnehmer:innen des Experiments ihre Vergangenheit abgeben. Sie werden – wie die Spielsachen – benutzt und dabei physisch als auch psychisch beschädigt.

Das Experiment | 4. (P), 5., 9., 10., 11.7. je 20 Uhr, 6.7. 18 Uhr | Freies Werkstatt Theater | ab 16 Jahren | 0221 32 78 17

Interview: Thomas Dahl

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