
choices: Frau Waltmann, mit Bezug auf klinisch-psychologische Erkrankungen wie ADHS oder Alzheimer fällt oft der Begriff der Neurowissenschaft bzw. Klinischen Neurowissenschaft. Können Sie das erläutern?
Maria Waltmann: „Klinische Neurowissenschaft“ ist ein sehr breiter Begriff, der viele verschiedene Forschungsfelder einschließt. Sie haben gemein, dass sie sich mit der Entstehung, Aufrechterhaltung und Therapie von Störungen des Gehirns beschäftigen. Dazu gehören klassische neurologische Erkrankungen wie etwa Migräne, Schlaganfälle, Alzheimer-Demenz, Parkinson, verschiedene Amnesien und Aphasien, aber auch psychiatrische Erkrankungen wie eben ADHS, Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen, Schizophrenie und so weiter.
Ein Schlagwort ist „Kartierung des Gehirns“, man liest von „ADHS-“ oder „depressiven Gehirnen“. Lässt sich das wirklich sagen?
Darin stecken zwei Fragen. Kann ich Ihr Gehirn scannen und mit Sicherheit sagen, Sie haben eine Depression? Nein, zumindest noch nicht, obwohl es dank Machine-Learning Techniken, eine Form der Künstlichen Intelligenz, Fortschritte in diese Richtung gibt. Kann man im Mittel Unterschiede erkennen zwischen den Gehirnen von Personen mit psychischen Störungen und solchen, die keine haben – zum Beispiel was die Dicke des Kortex, die Stärke von Verbindungen zwischen verschiedenen Hirnregionen und die Reaktivität der Nervenzellen auf bestimmte Stimuli angeht? Das oft schon. Aber es kommt natürlich immer auf die psychische Störung an, wie gut das geht und wie eindeutig die Befunde sind.
„Dinge offenlegen, über die die Patient:innen eben keine Auskunft geben können“
Unzulässig wäre also eine Ableitung wie: Leute mit vergrößerter Amygdala – der mit Angst assoziierten Hirnregion – sind besonders ängstlich oder haben gar eine Angststörung?
Mir ginge das zu weit. Hier greift das Problem der „Reverse Inference“, das heißt, man leitet aus Befunden aus der Bildgebung (z.B. der vergrößerten Amygdala) mentale Zustände ab, zum Beispiel Angst, weil mehrere vorhergehende Studien gezeigt haben, dass Angst mit verstärkter Aktivität der Amygdala einhergeht. Das wäre aber wie wenn man sagen würde: frühere Forschung zeigt, dass Hunde vier Beine haben. Da dieses Tier vier Beine hat, ist es wohl ein Hund. Aber das ist natürlich Quatsch. Und die Frage ist auch, was möchte ich eigentlich wissen? Wenn ich etwas über das Angstempfinden einer Person wissen will, frage ich sie einfach, bevor ich sie durch einen MRT-Scanner jage und mir die Amygdala anschaue.
Was könnte eine zukünftige konkrete Anwendung aus der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung sein?
Die Idealvorstellung in meinen Augen ist, dass sie Dinge offenlegen kann, über die die Patient:innen eben keine Auskunft geben können. Diese Informationen könnten idealerweise genutzt werden, um die Therapie spezifischer anzupassen. Die Forschung könnte etwa zeigen, dass ein und denselben Symptomen bei verschiedenen Patient:innen unterschiedliche neurokognitive Mechanismen zugrunde liegen können. Ein Beispiel, an dem aktuell gearbeitet wird: Antriebslosigkeit kann davon kommen, dass man Aktivitäten als besonders anstrengend wahrnimmt, oder sich so wenig davon verspricht, dass sich der Aufwand nicht lohnt. Diese Patient:innen unterscheiden sich vielleicht auch dahingehend, von welcher Form von Therapie sie am meisten profitieren – z.B. Verhaltenstherapie, psychodynamischer Therapie oder auch pharmakologischen Therapeutika. Das könnte man nutzen und etwa Verhaltensexperimente und bildgebende Verfahren einsetzen um Patient:innen schneller zur richtigen Therapie zu bringen.
„Diese Schritte sind oft viel größer als man denkt“
Haben Sie ein Beispiel?
Ich arbeite gerade an einer Studie mit, bei der wir uns Belohnungslernen und ADHS anschauen. Wir testen junge Patient:innen, bevor sie das erste Mal Ritalin bekommen und, nachdem sie gut eingestellt sind, zehn Wochen später. Sie bearbeiten im MRT-Scanner ein Lern- und Entscheidungsexperiment. Die Frage ist, ob wir anhand der Bildgebung und dem Verhalten zu Beginn der Therapie, schon vorhersagen können, ob die Therapie mit Ritalin Wirkung zeigen wird. Die Ergebnisse stehen noch aus.
Ein Schritt von der Grundlagenforschung in die Praxis?
Genau. Aber diese Schritte sind oft viel größer als man denkt. Selbst das gesunde Gehirn ist in weiten Teilen noch ein wissenschaftliches Mysterium, nicht zu schweigen vom erkrankten. Das ist auch nicht überraschend: Wir haben erst seit ein paar Jahrzehnten überhaupt die Möglichkeit, das lebende Gehirn non-invasiv zu untersuchen. Dabei sind unsere Methoden noch vergleichsweise rudimentär – wir schauen uns zum Beispiel meistens mehrere zehntausende Neuronen auf einmal an. Dass wir überhaupt so viel finden und schon wissen, ist das eigentliche Wunder.
„Es ist nicht immer das spektakuläre Ergebnis“
Was haben Sie denn bisher gefunden mit Blick auf die Studie zu ADHS und Belohnungslernen?
Wir sehen, dass die Entscheidungen bei Patient:innen mit ADHS inkonsistenter sind als bei jenen, die kein ADHS haben. Sie wechseln viel häufiger zwischen den verschiedenen Optionen hin und her. Das ist nicht unbedingt überraschend, aber Forschung muss eben auch schauen, ob Annahmen stimmen, die vielleicht schon intuitiv Sinn ergeben. Es ist nicht immer das spektakuläre, weltverändernde Ergebnis. Vielleicht sogar meistens eher nicht.
Die Öffentlichkeit und auch der Journalismus scheinen lieber spektakuläre Schlagzeilen zu wollen. Wie sieht es aus mit „Dopaminfasten“ oder ähnlichem?
Also, wenn die Frage ist, ob es hanebüchene Ableitungen von neuronalen Befunden gibt: Ja, alle möglichen. „Dopamindiät“, „Serotoninboosten“ oder was es da alles gibt, da ist schon viel Unsinn dabei. In den richtigen Händen können Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft aber zum Beispiel Ideengeber für die Medikamentenentwicklung im Bereich der Psychiatrie, der Psychopharmakologie, werden – also einem Bereich, in dem sich in den letzten Jahrzehnten nicht besonders viel getan hat.
„Ein gutes und vor allem nützliches Modell“
Heißt das, der ganz große Wurf, das Gehirn zu erklären und zu verstehen, die 90 Milliarden Neuronen ordnen zu können, das ist so nicht möglich?
Ich weiß gar nicht genau, ob das das Ziel ist oder was das überhaupt heißen würde. Wenn es darum geht, das Zusammenspiel unserer grob 90 Milliarden Neuronen und seiner Billionen Verknüpfungen und Chemikalien und Gerüstzellen „vollständig“ zu verstehen, dann denke ich: Ja, das ist zu viel für eine (echte) Person. Aber hieße, die Wüste zu verstehen, jedes seiner Milliarden Sandkörner und ihre ureigenen Beziehungen zueinander zu verstehen? Ich denke eigentlich nicht. Stattdessen können wir verstehen, wie sich zum Beispiel Dünen bilden, das ist nicht wenig. Da haben wir uns ein gutes und vor allem nützliches Modell der Wüste gebaut – und das geht meiner Ansicht nach mit dem Gehirn auch. Das bedeutet aber nicht, dass das einfach ist. Es gibt da eine Übersetzungslücke zwischen dem, was wir mithilfe physikalischer Begriffe (Aktionspotenziale, BOLD-Signale …) verstehen können und dem, was wir (bisher noch) mit mentalen oder emotionalen Begriffen (Aufmerksamkeit, Angst …) verstehen können. Neuronen sind, krude gesagt, wie miteinander verknüpfte Schalter, die an oder aus sein können. Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, Ihre Angst entspricht der An-Aus-Konfiguration dieser paar Tausend Schalter, macht das für Sie ja gar keinen Sinn. Für mich auch nicht, kann es auch nicht. Es ist eine riesige Lücke da. Die große Aufgabe der Neurowissenschaft ist es, Modelle zu formulieren, die zwischen diesen Verständnisformen nutzbare Brücken schlagen.
Bedeutet das dann zum jetzigen Zeitpunkt, mit Blick auf die Neurowissenschaft und klinisch-psychologische Störungen: besser psychosoziale Betreuung als bildgebende Forschung?
Das ist, als würden Sie mich fragen, ob wir lieber die Notaufnahme oder die Krebsforschung finanzieren. Klar, wenn es sehr wenig Geld gibt, dann natürlich die Notaufnahme, die psychosoziale Betreuung. Da geht es um Menschen in akuter Not. Damit jedoch in Zukunft weniger Menschen in diese Notsituation geraten, da braucht die Finanzierung der Forschung ihren Platz.
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