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Olaf L. Müller
Foto: Kalina Trzaska

„Besser fragen: Welche Defensivwaffen brauchen wir?“

30. Oktober 2025

Teil 1: Interview – Philosoph Olaf L. Müller über defensive Aufrüstung und gewaltfreien Widerstand

choices: Herr Müller, Sie plädieren dafür, primär in defensive Verteidigung zu investieren statt in „aggressive Aufrüstung“. Kommt die Botschaft dahinter bei jemandem wie Putin überhaupt an?

Olaf L. Müller: Ob Putin, der Schwer- und Kriegsverbrecher, sich von solchen Signalen beeindrucken lässt, das kann ich nicht vorhersagen. Man könnte hoffen, dass die Botschaft in seinem Land ankommt, obwohl auch das unkalkulierbar ist. Doch wenn wir nur in martialische, aggressive Aufrüstung investieren, wird sich der Konflikt weiter verschärfen. Es wäre besser, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen und unsere Militärs zu fragen: Welche Defensivwaffen brauchen wir, um die Nato-Grenzen einzig und allein gegen einen territorialen Angriffskrieg aus dem Osten zu verteidigen? Welche Aufklärungssysteme brauchen wir an den Nato-Grenzen? Wie weit muss unsere Artillerie reichen, um jeden Plan eines russischen Überfalls auf unseren Grund und Boden zu vereiteln? Hier haben Verteidiger bessere Karten als der Angreifer, der dreimal so stark wie der Verteidiger sein muss, um am Boden durchzudringen; in Städten ist der Faktor zehn zu eins. Für eine solche defensive Abschreckung sind völlig andere Systeme gefragt als etwa Mittelstreckenraketen, die bis zum Kreml reichen und eine aggressive Abschreckung bieten. Kurzum, wir können sehr wohl definitive Signale setzen, dass wir uns unser Land nicht wegnehmen lassen. Auch der Zar im Kreml würde das verstehen.

Das Teufelszeug muss mit einem weltweiten Bann belegt werden“

Krieg findet heute auch ferngesteuert statt. Übers Netz und gestützt von KI. Bisher kennt künstliche Intelligenz aber keine Moral.

Das ist ein heißes Thema und – um Angela Merkel zu zitieren – bei vielen Leuten noch „Neuland“. Die Überraschung hierzulande war groß, als die ersten KI-Dialogsysteme frei verfügbar wurden. Aber es geht um mehr als um harmlose Dialoge. Nehmen wir konkrete Anwendungen in den Blick, die auf uns mit aller Macht zukommen. So gibt es Bestrebungen, in autonome Fahrzeuge eine Art Moralmaschine einzubauen. Wie sähe das aus? Die Pläne dafür sind zum Gruseln – und aus philosophischer Sicht äußerst dubios. Geplant sind Autos mit einer US-amerikanischen Optimierungsmoral namens Utilitarismus: Sobald Unfallgefahr droht, sollen Autos die Zahl der Toten und Verletzten minimieren, also etwa das Leben eines einzelnen Fahrers aufs Spiel setzen, um keine Menschenmenge niederzufahren. Werden sich solche Fahrzeuge auf dem Markt durchsetzen? Schwerlich; wir sehen auf unseren Straßen jetzt schon Panzer in Form von Geländewagen, die das Leben der Insassen optimal schützen und dafür den Passanten viel größere Risiken aufbürden, als es die kleinen, guten, alten Autos früherer Jahre taten. Dieselbe Logik würde zu autonomen Autos führen, die ihre zahlungskräftigen Käufer auf Kosten von Passanten schützen. Noch schlimmer wird es bei Kampfrobotern, in die bombensicher keine faire Moral eingebaut werden wird, sondern eine rücksichtslose Siegermoral. Rein technisch müsste es darauf nicht hinauslaufen; man könnte sehr wohl humanere Kampfroboter programmieren – aber wer wird dafür bezahlen? Nein, all das ist Teufelszeug und muss mit einem weltweiten Bann belegt werden.

Warum ist diese Statistik so wenig bekannt?“

Sie haben vorgeschlagen, eine Wehrpflicht einzuführen, bei der die Menschen wählen dürfen, ob sie Dienst an der Waffe lernen oder gewaltfreien Widerstand. Wie kann das helfen?

Immer wieder haben mir Pazifisten gesagt, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass der gewaltfreie Widerstand effizienter ist als der Widerstand mit Waffen. Ich stöhnte innerlich und hielt es für Wunschdenken – bis ich mir die Studie endlich angeschaut habe, die aus der Harvard Kennedy School stammt, einer erstklassigen Adresse. Die beiden Autorinnen haben für die Zeit von 1900 und 2006 sämtliche 323 Aufstände in aller Welt analysiert, an denen sich mehr als 1.000 Menschen beteiligt haben. Das erstaunliche Ergebnis: Die gewaltfreien Kampagnen hatten in der Hälfte aller Fälle Erfolg, die Kampagnen mit Waffengewalt nur in einem Viertel aller Fälle. Warum ist diese Statistik so wenig bekannt? Ich fürchte, weil wir ihr ums Verrecken nicht glauben wollen. Das wiederum hängt mit unserem negativen Menschenbild zusammen, dem zufolge man dem Bösen nur mit Waffengewalt entgegentreten könne. Solange wir an diesem Menschenbild festhalten, das man uns Jahrtausende lang gepredigt hat, haben wir nicht die geringste Aussicht darauf, aus dem Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt auszubrechen. Ich wäre demgegenüber dafür, dem gewaltfreien Widerstand gegen Tyrannei und Fremdherrschaft endlich eine Chance zu geben.

Auf elementare Mitmenschlichkeit setzen“

Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine kommt mir ein Song von Sting aus dem Jahr 1985 in den Sinn. In „Russians“ heißt es „I hope the russians love their children too“. Müssen wir uns wieder mehr darauf besinnen, dass wir alle die gleichen Menschen mit denselben Bedürfnissen sind?

Ich bin sicher, dass die Russen ihre Kinder lieben – absolut sicher. Auch die Nazis haben ihre Kinder geliebt. Hier haben wir eine der Ressourcen, an die man als Pazifist felsenfest glaubt. Im Fall der Fälle des Angriffs auf eine Stadt würde der Appell an die elementare Mitmenschlichkeit darin bestehen, den angreifenden Soldaten mit aller Freundlichkeit und ohne Waffen zu begegnen. Sollten diese trotzdem ein Massaker anrichten, so können sie sich – anders als im Falle des bewaffneten Widerstandes – nicht damit herausreden, sie würden irgendwelche Bösen bekämpfen. Stattdessen wären sie gezwungen, der eigenen Monstrosität ins Auge zu blicken. Klar, es gibt immer einen kleinen Prozentsatz an Menschen, etwa Psychopathen, denen jede Empathie abgeht. Die sind zu allem fähig. Aber im Vergleich zu einer großen Armee handelt es sich um eine winzige Gruppe. Denken Sie an den „Tank Man“ aus Peking. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens hatten Studenten wochenlang gegen den kommunistischen Totalitarismus protestiert. Zuletzt rollten die Panzer der Tyrannen in Kolonne durch die Straßen. Da hat sich ein einzelner Mann vor den ersten Panzer der Kolonne gestellt. Und dieser Panzer hat angehalten. Er setzte ein Stück zurück und wollte um den Tank Man herumfahren. Das konnte er aber nicht, weil der Mann einfach einen Schritt zur Seite getreten ist und ihm wieder den Weg versperrte. Der Panzer hat den Tank Man nicht niedergewalzt. Hier sehen Sie die Wirkung einer elementaren Mitmenschlichkeit, die in fast jedem von uns verankert ist. Sie kann uns abhandenkommen; wir alle können unter Beschuss verrohen. Aber wenn jemandem keinerlei Waffengewalt entgegenschlägt, dann ist es alles andere als verrückt, auf seine elementare Mitmenschlichkeit zu setzen. Er ist ein Mensch wie Du und ich! Hier haben Sie das optimistische Menschenbild des Pazifismus. Selbstverständlich können Sie sich stattdessen pessimistisch positionieren. Wer recht hat, der Pessimist oder der Optimist, lässt sich nicht wissenschaftlich entscheiden. Suchen Sie sich aus, mit welcher Variante Sie Ihren Lebenswandel gestalten wollen!

Interview: Daniela Prüter

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