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Michael Nattke
Foto: Susanne Keichel

„Man hat die demokratischen Jugendlichen nicht beachtet“

31. Juli 2025

Teil 1: Interview – Rechtsextremismus-Experte Michael Nattke über die Radikalisierung von Jugendlichen

choices: Herr Nattke, Sie haben in einem Interview davor gewarnt, die Fehler der 90er Jahre – auch „Baseballschlägerjahre“ genannt – zu wiederholen. Welche Fehler?

Michael Nattke: Den Umgang mit den rechtsextremen Jugendlichen. Wir müssen aus den 90er Jahren lernen. Damals hat man sich sozialarbeiterisch sehr auf die rechtsextremen, die rechtsaffinen Jugendlichen konzentriert. Man hat den Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit gefahren, sie in Jugendclubs gelassen,Erlebnisfahrten unternommen und ihre rechtsextreme Meinung nicht in den Vordergrund gestellt, vor allem in Ostdeutschland. Dabei ist einiges schiefgegangen, denn – so sage ich heute – dabei wurden die nicht rechten Jugendlichen vernachlässigt. Man hat die demokratischen Jugendlichen nicht mehr gesehen, sie wurden sozusagen gar nicht beachtet. Wir wissen heute aus verschiedenen Studien und auch aus unserer praktischen Arbeit, dass dort, wo es wirklich gute, nicht rechte, alternative Jugendstrukturen gibt, die geschützte Orte haben, rechtsextreme Strukturen es wirklich schwer haben mit der Nachwuchsgewinnung. Also: Sollten wir vielleicht nicht alle Kraft und alle Ressourcen auf den Aufbau von solchen nicht rechten Jugendkulturen lenken, statt uns an den rechten Jugendlichen abzuarbeiten? 

Die ‚Baseballschläger‘ sind heute die Eltern dieser Jugendlichen“

Die Schläger aus den Neunzigern sind heute Teil der Elterngeneration?

So ist es. Das ist genau dieseElterngeneration. Wir haben natürlich auch rechtsextreme Jugendliche, die aus Elternhäusern kommen, in denen niemand eine rechtsextreme Vergangenheit hat. Aber grundsätzlich ist es so, dass die „Baseballschläger“ heute die Eltern dieser Jugendlichen sind, manchmal auch schon die Großeltern. Bei Pegida in Dresden haben sich alle gewundert, wo denn plötzlich diese ganzen Mitte, Ende 40-jährigen Männer herkommen, die rassistische Parolen rufen. Jetzt rechnen wir mal zurück …

Warum sind Jugendliche so anfällig für rechte Strukturen, und warum ist es so schwer, dem etwas entgegenzusetzen?

Um junge Menschen zu verstehen,muss man sich in sie hineinversetzen. Menschen, die heute so 18 oder 19 Jahre alt sind, haben eine Biografie voller ernsthafter Krisen. Es gab die Pandemie, es gibt den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, es gibt den Nahostkonflikt. Diese jungen Menschen haben wirklich existenzielle Krisen in ihrem Leben erlebt. Und bei ihnen ist natürlich eine viel, viel höhere Verunsicherung, wenn sie in die Zukunft schauen als bei Älteren, für die das vielleicht nur so kleine Marker im Lebensverlauf sind. In so einer Krisensituation sucht man nach irgendetwas, woran man sich festhalten kann. Die AfD ist seit zehn Jahren daund wird gesellschaftlich immer erfolgreicher. Da ist ein Angebot. Jemand behauptet, er könne alle Probleme lösen. Das stimmt natürlich nicht. Aber es ist ein Angebot da. Und diese jungen Menschen haben, seit sie sieben Jahre alt sind, den Aufstieg der AfD erlebt. Das sind auch die Früchte. Sie halten sich an traditionellen Werten fest, weil sie in einer unübersichtlichen und instabilen Weltnach Halt suchen.

Die heute 18- oder 19-Jährigen haben eine Biografie voller ernsthafter Krisen“

Soziale Medien spielen eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung. Warum sind Rechtsextreme dort erfolgreicher als demokratische Kräfte?

Die Struktur von zum Beispiel Tiktok oder anderen sozialen Medien spielt ihnen immer in die Hände. Denn ein komplizierter politischer Zusammenhang in einer demokratischen Gesellschaft, kann nicht innerhalb von 30 Sekunden einem Tiktok-Video erklärt werden. Und wenn man es denn erklären möchte mit Fakten, dann wird es am Ende ein ziemlich langweiliges Video. Es ist natürlich viel, viel einfacher, wenn ich ohne Fakten arbeite, wenn ich mit Emotionen arbeite und wenn ich einfach nur politische, populistische Botschaften loswerden will. Botschaften, die einfach nur irgendwie aufregen, emotional aufwühlen. Für Klickzahlen braucht man einen emotionalen Aufreger. Tatsächlich ist es aber so, dass demokratische Parteien diese sozialen Medien oft vernachlässigt haben oder erstspäter mit aufgesprungen sind. Trotzdem glaube ich, dass man jetzt nicht mit dem Motto antreten sollte, dort besser zu sein als die AfD. Diese kurzen, knappen Videos können dem Anspruch, den eine demokratische Partei haben sollte, einfach nicht gerecht werden. Politik dauert eben länger als ein 30 Sekunden Tiktok-Video.

Politik dauert eben länger als ein 30 Sekunden Tiktok-Video“

Aus welchen Projekten ziehen Sie Motivation für Ihre Arbeit mit Jugendlichen?

Da gibt es zum Glück viele. Meine tägliche Motivation ziehe ich daraus, dass ich weiß, in wahnsinnig vielen Orten – selbst in Sachsen, wo wir ein Problem mit Rechtsextremismus haben – gibt es kleine Orte, in denen es Gruppen von Jugendlichen gibt, die keine Rechtsextremen sind und die sich dort organisieren. Sie versuchen, für ihr Gemeinwesen etwas auf die Beine zu stellen, organisieren Konzerte und Festivals und begeistern an ihren Orten damit andere Jugendliche. Ein positives Beispiel, was mir da einfällt, ist Limbach Oberfrohna. Das ist im Landkreis Zwickau, wo wir vor zehn Jahren eine Gruppe von Jugendlichen begleitet haben. Inzwischen gibt es da sozusagen eine dritte Generation unter den Heranwachsenden. Diese älteren Jugendlichen, die heute natürlich schon Erwachsene sind, die haben dort einen „Ort der Demokratie“ errichtet, mit einem Café für die Leute aus dem Ort, die dort auch hinkommen. Es geht also nicht mehr nur um Jugendliche. Und so ist dort ein kleines demokratisches Pflänzchen entstanden, an dem ich sehe, meine Arbeit hat gefruchtet. Solche und ähnliche Orte in Sachsen geben mir immer wieder Motivation, dass die Arbeit sich lohnt und dass es sich lohnt, sich dafür einzusetzen, dass junge Menschen sich entwickeln können. Demokratisch.

Interview: Daniela Prüter

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