Der Rechtsruck setzt uns zu, und wenn man heute von rechts redet, sind ja nicht die konservativen Demokraten gemeint, die bloß stoisch konservieren. Gemeint sind üblicherweise rechtsnationale Braunhemden, deren Utopie uns Dystopie ist. Zugleich sind derlei demokratisch gewählte Antidemokraten nur eines von drei Problemen – und tatsächlich sind sie davon das kleinste. Denn:
Problem Nummer 1: Die demokratischen Parteien. Sie begleiten uns nach 1945 erst einmal recht stabil durch den Wohlstand, was so lange gut geht, bis die Republik in die Rückständigkeit verwaltet ist (s. konservative Demokraten). Irgendwann sind blühende Landschaften welk und rückständig. Thilo Sarrazin hat da mit einem, gelinde gesagt: fragwürdigen, Bestseller längst böses Blut erzeugt, woraufhin sehenden Auges die AfD erstarkt, während die demokratischen Parteien vor allem eines nicht tun: Vertrauen zurückgewinnen. Am Ende verschenkt eine Ampelkoalition drei weitere Jahre in infantiler Fehde, und unsere neue Regierungskoalition setzt erst einmal fleißig auf Wortbruch und Symbolpolitik.
Flankiert von seinen kalten Hunden Linnemann, Dobrindt, Frei und Spahn übernimmt ein – weil’s gerade passt: emotionalisierter Kanzler Merz AfD-Programm und ignoriert als Mitläufer Donald Trumps mit markanter Phrase und kernigem Auftritt Völkerrechtsverstoß und Gewaltenteilung. Während hierzulande die Verlierer im Neoliberalismus weiter als Parasiten klassifiziert werden und Asylanten als Staatsfeind Nummer eins, sehen sich Wirtschaft, Vermögen und Erbschaft großzügig subventioniert. Das Steuergeld wird in Kriegsgerät gepumpt, die Etats von Bildung, sozialer Einrichtung und Kultur werden zusammengeschrumpft. Alles im Einklang mit den Sozialdemokraten. So zerlegen demokratische Parteien die Demokratie und erwarten dabei offensichtlich, dass man das Volk zurückgewinnt, indem man aufs Volk pfeift.
Problem Nummer 2: Das Volk. Es ist beängstigend, wie uns Bürger:innen innerhalb weniger Jahre das Miteinander verloren geht. Alle zeigen nur auf andere. Jeder Vierte wählt Faschismus. Wie verroht sind wir? Heute denkt jede und jeder bei Wahlen nur noch an sich statt an das große Ganze. Selbstreflexion und differenzierte Meinungsbildung: Adé. Pose statt Haltung – „Wenn dir das reicht“ (Dota Kehr). So aber funktioniert Demokratie nicht. In einer Demokratie voller Egos bräuchte am Ende jeder Wähler seine eigene Partei. Die AfD wiederum weiß Egos am besten zu bündeln.
Bei den Rechten sieht sich jeder nur als Opfer, bei den Linken denkt jeder: Was soll ich allein schon ausrichten? Am Ende fühlen sich alle machtlos. Dabei geht alle Macht vom Volke aus. Mein Verhalten in der Wahlkabine ist eine Richtungsentscheidung: „Wieder“ oder „Nie wieder“. Das ist Macht. Und Macht – Spiderman lässt grüßen – erfordert Verantwortung. Ebendiese fordert das deutsche Volk von der Politik ein, kommt aber seiner eigenen Verantwortung nicht nach. Stattdessen: Kriegsmüdigkeit, weil anderswo ständig Soldaten und Zivilisten sterben und uns damit die Tagesschau vermiesen.
Problem Nummer 3: Die AfD. Diese Partei trägt keine Verantwortung, und mal ganz ehrlich: Das erwartet auch niemand von ihr. Denen, die sie wählen, ist sie lediglich Ventil. Die AfD wütet, blockiert, schürt und sät Hass und konstruiert die Sündenböcke gleich mit dazu: Ohne Sündenböcke kein Faschismus – das lehrt uns die Erinnerungskultur. Die AfD ist bösartig und grausam. „Was hat dir dein Herz gestohlen?“ (Roland Kaiser/Matthias Miersch). Konstruktives ist der Partei fremd. Sie reizt strategisch die Grenzen des Sagbaren aus, während Teile ihrer Gefolgschaft auf den Straßen unterwegs sind und längst Grenzen überschreiten, indem sie in SA-Manier Andersdenkende und –aussehende bedrohen und blutig prügeln und woanders mordend brandschatzen. Die AfD ist keine Partei, die sich kümmert. Sie braucht bloß Wählerstimmen und freie Radikale.
Und doch bleibt die AfD das geringste unserer drei Übel. Nach dem Faschismus ist unsere Demokratie noch immer mit menschen- und demokratieverachtenden Agitatoren fertig geworden. Das Problem ist nicht die AfD, sondern die Zustimmung, die ihr widerfährt. Der Moralverlust. Die Enttabuisierung. Der falsche politische Umgang mit ihr. Will sagen: Problem Nummer 3 wäre nicht das Problem ohne Problem 1 und 2. Und nicht zuletzt spielen da natürlich auch die Medien eine Rolle, denen viel zu oft ausgerechnet eines abgeht: Medienkompetenz. Die 4. Gewalt ist längst Problem Nummer 4.
Statt auf andere zu zeigen, könnte jede und jeder von uns bei sich selbst anfangen. Indem man als Gewählter nachhaltig, bedächtig und zum Wohl des ganzen Volkes (Reminder: Amtseid!) regiert, statt dass man dem Großteil davon den „Zugang verwehrt“ (Francis Seeck). Und indem jede und jeder für sich selbst beantwortet, ob Demokratie das große Übel ist, bloß das mit Abstand kleinste – oder gar ein Geschenk. Und ob man das Beste rausholt und die Demokratie wach verteidigt. Indem man zumindest demonstrieren und wählen geht. Indem man wenigstens Nein und Stopp sagt, wenn es geboten ist. Indem man Demokratiefeinde auslädt. Weil unsere Freiheit auf nichts anderem als Demokratie fußt.
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Ich, Menschenfeind
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Teil 2: Leitartikel – Der Streit ums AfD-Verbot und die Unaufrichtigkeit des politischen Zentrums
„Die Chancen eines Verbotsverfahren sind relativ gut“
Teil 2: Interview – Rechtsextremismus-Forscher Rolf Frankenberger über ein mögliches Verbot der AfD
Antifaschismus für alle
Teil 2: Lokale Initiativen – Der Bochumer Antifa-Treff
Faschismus ist nicht normal
Teil 3: Leitartikel – Der Rechtsruck in Politik und Gesellschaft – und was dagegen zu tun ist
„Radikalisierung beginnt mit Ungerechtigkeitsgefühlen“
Teil 3: Interview – Sozialpsychologe Andreas Zick über den Rechtsruck der gesellschaftlichen Mitte
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Teil 3: Lokale Initiativen – Das zivilgesellschaftliche Netzwerk Wuppertal stellt sich quer
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„Ich ersetze keine Menschen – ich entlarve sie“
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Hindernislauf zur deutschen Staatsbürgerschaft – Glosse
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