Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
25 26 27 28 29 30 31
1 2 3 4 5 6 7

12.613 Beiträge zu
3.835 Filmen im Forum

Abwärtstrend?
Foto: panco/Adobe Stock

Der Vogelschiss der Stammesgeschichte

28. August 2025

Wenn Menschenrechte gleich Lügenpresse sind – Glosse

Es war einmal ein Land, in dem wurde die öffentliche Meinung geprägt durch Diskurse: Auf dem Markplatz der Ideen fand ein fairer Wettstreit statt, es zählten Fakten, Wissen, Rationalität und am Ende das bessere Argument. Der philosophische Großintellektuelle sprach von einer „Diskursethik“ und die ganz wenigen, die sich nicht daran hielten, sie waren verbannt zu ihren Tischen und Stämmen. Wagten sie, die Gates und damit den Marktplatz zu stürmen, sie wurden gekeept von Journalist:innen, die sich immerhin mit dieser Sache gemein machten – nicht jedem Wahnsinn Tür und Tor zu öffnen.

Dieses Land, tja, wie hat es wohl geheißen? Elysium, Garten Eden, Nirwana oder Moksha? Die Bundesrepublik Deutschland war es sicher nicht. Wie könnten derart aufgeklärte Bürger:innen – reeducated durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk – innerhalb nur kürzester Zeit der vielköpfigen Hydra des Internets verfallen und in dessen Echokammern von Empfänger:innen zu Sender:innen werden. Sender:innen, die glauben, eine Impfung sei eigentlich ein Chip von Bill Gates, ein Menschenrecht – wie der Schutz vor Verfolgung und Krieg – etwas, was Mensch sich verdienen müsse, was entzogen werden könne, wenn es einem gerade nicht mehr passt, es zu gewähren. Dass das sogenannte Abendland kurz vor der Islamisierung stünde, der Bevölkerungsaustausch komme. Und was ist eigentlich mit den Gatekeepern passiert?

Hass und Basisdemokratie

Wie wurde es als demokratisch gefeiert – dieses Zwischennetz. Endlich kann jede:r sich öffentlich beteiligen, öffentlich seine oder ihre Meinung äußern, der alte Kalle Marx würde es doch glatt als Verwirklichung der Basisdemokratie feiern: Keine Gatekeeper, die vorschreiben, eine Vorauswahl betreiben – also eigentlich zensieren! Wie schön. Ist es auch. In der Theorie. Indes, es fehlt etwas, was ist es nur? Ach ja, eine durch und durch demokratische Bevölkerung, die sich nicht oktroyiert, sondern aus Überzeugung an Konzepten wie Menschenrechten oder Rechtsstaatlichkeit orientiert. Die eben „reeducated“ ist. Doch zu hassen ist leichter als zu denken, schon rein stammesgeschichtlich: Der mit Rationalität assoziierte präfrontale Kortex bildete sich als letztes aus – anscheinend im Zweifelsfall nur ein Vogelschiss der menschlichen Entwicklung.

Nein, das ist kein Plädoyer für eine Rückkehr in Zeiten, in denen weiße cis-Männer kontrollierten, was veröffentlicht wird und was nicht. Wenn überhaupt eines für das Anerkennen der Ambivalenz des vermeintlichen Fortschritts durch den Wegfall des Gatekeepings. Eine Öffentlichkeit, die sich von dem, was früher beim Stammtisch besprochen wird, vor sich hertreiben lässt, weil es am meisten Klicks bringt – sie wird im Namen des Fortschritts zurückschreiten: Siehe die Wiederwahl des amerikanischen Präsidenten, dass in Österreich gut 90 Jahre nach der Machtergreifung ganz ungeniert von einem möglichen „Volkskanzler“ gesprochen wird. So elend viele Beispiele.

Nachrichtensprecher zu Regierungssprechern

Und immer und überall geht dies einher mit der Unterwanderung bis Auslöschung einer freien Presse. Wie frei kann sie auch sein, die sogenannte vierte Gewalt, wenn sie im Kapitalismus reüssieren muss? Wenn dort, wo sie das nicht muss, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR), Nachrichtensprecher nonchalant zu Regierungssprechern werden? Wer glaubt da noch an Neutralität. Und vielleicht ist es die Krux der Marktplatz-Metapher, dass die lautesten Marktschreier:innen belohnt werden, unabhängig davon, was sie schreien. Eine Haltung zu haben, auf Grundlage von Menschenrechten, ist keine Aufgabe der Neutralität. Wer das „Lügenpresse“ nennt, dem oder der ist rational einfach nicht mehr zu helfen. So viel Widerstand gegen den Wahnsinn darf man von Medien schon erwarten. Damit die nächste Politik-Talkrunde nicht wieder wirkt wie eine Gruppentherapie auf der Psychose-Station. Für den Vergleich muss ich mich entschuldigen – bei all jenen, die an Psychose erkrankt sind.

Was man nur aushalten kann

Doch was solle man schon tun, man könne diese Leute nicht nicht einladen, das würde deren Opfernarrativ bedienen und sie nur noch stärker machen. Der absolute Allgemeinplatz. Nie getestet. Hingegen: Wie häufig wurde es getestet, den Wahnsinn einzubinden, sodass er sich selbst entlarve; versucht, der Irrationalität mit den Mitteln der Rationalität entgegenzuhalten? In den USA wurde so der Wahnsinn wiedergewählt und unser Nachbar läuft geradewegs in die „Volkskanzlerschaft“. Wie die letzte endete sollte in Deutschland bekannt sein.

Journalismus soll eine gewisse Neutralität und Ausgewogenheit haben, keine Frage. Insbesondere der ÖRR. Doch wenn das Berichten von Tatsachen, eine Haltung auf Basis von Menschenrechten als Voreingenommenheit oder gar „Lügenpresse“ bezeichnet wird, dann kann er dem nicht beikommen. Das kann man nur aushalten. So wie früher den Stammtisch. Eine Bühne hingegen sollte man ihm nicht geben. Ja, sie werden sich eine eigene Bühne suchen – das Internet macht‘s möglich. Sollen sie. Vielleicht ist Vernunft gegen irrationalen Hass einfach keine adäquate Waffe. Manche Dinge lassen sich nicht verhindern, das heißt jedoch noch lange nicht, dass man sie unterstützen muss. Ansonsten wird es alsbald heißen: Es war einmal … ein demokratischer Rechtsstaat.

Paul Tschierske

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Neue Kinofilme

Die Gangster Gang 2

Lesen Sie dazu auch:

Branchenprobleme
Intro – Gut informiert

Teuer errungen
Teil 1: Leitartikel – Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss bleiben – und besser werden

„Die Sender sind immer politisch beeinflusst“
Teil 1: Interview – Medienforscher Christoph Classen über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk

Aus den Regionen
Teil 1: Lokale Initiativen – Das WDR-Landesstudio Köln

An den wahren Problemen vorbei
Teil 2: Leitartikel – Journalismus vernachlässigt die Sorgen und Nöte von Millionen Menschen

„Das Gefühl, Berichterstattung habe mit dem Alltag wenig zu tun“
Teil 2: Interview – Medienwissenschaftlerin Marlis Prinzing über Haltung und Objektivität im Journalismus

Von lokal bis viral
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Landesanstalt für Medien NRW fördert Medienvielfalt

Journalismus im Teufelskreis
Teil 3: Leitartikel – Wie die Presse sich selbst auffrisst

„Nicht das Verteilen von Papier, sondern Journalismus fördern“
Teil 3: Interview – Der Geschäftsführer des DJV-NRW über die wirtschaftliche Krise des Journalismus

Pakt mit dem Fakt
Teil 3: Lokale Initiativen – Das Zentrum für Erzählforschung an der Uni Wuppertal

Nicht mit Rechten reden
Der „cordon sanitaire médiatique“ gibt rechten Parteien keine Bühne – Europa-Vorbild Wallonien

Glosse