Größte Perfektion bei größter Offenheit. Thomas Scheibitz hat geackert für seine Bonner Ausstellung, bald muss er auch immer mal wieder nach Düsseldorf in die Akademie, die schönen Zeiten der Künstler-Bohème sind für den 49-Jährigen definitiv vorbei. Vom Tisch an die Wand. Von der Wand auf den Boden. Seine Formen wandern zwischen den Dimensionalitäten hin und her, verwirren Auge und Geist. Ein magisches Spiel in Welten, die nie existieren werden, die er aber vorgibt zu sein. Bald geht es also von der Sonne Toledos in die Düsternis der Neorenaissance – ein bisschen ungewöhnlich scheint das schon für den Biennale-Teilnehmer von 2005, der nun dort den Begriffen der Studenten ihre Substanz entziehen kann.
„Masterplan\kino“ heißt die Ausstellung mit rund 60 Arbeiten, vom Künstler selbst zusammengestellt. Die meisten sind neu und eigens für das Museum geschaffen worden. Vor dem Sehen kommt das Lesen, und da erfährt man, dass der Titel bereits Auftakt zu einem großen theoretischen Gedankenmodel ist: Da die Wand im Museum ähnlich groß wie eine Kinoleinwand sein kann, fallen die Blicke der Zuschauer bei Film und Kunstwerk nie nur auf einen Punkt, sondern auf viele, und immer können sie deshalb in kleine, separierte Einheiten aufgeteilt werden. Scheibitz zitiert dazu William S. Burroughs und seine Ideen der Einflüsse auf die Bereiche Geräusch und Musik und damit „Die Elektronische Revolution“ von 1970. Das bedeutet auch, dass der Künstler viele Konzentrationspunkte in seinen Bildern und Skulpturen vorhalten wird, die wertfrei und ohne Konkurrenz betrachtet werden können.
Der erste Raum im Museum zeigt ein erstes „Koordinatensystem“: Bilder wie Himmelsrichtungen. Doch schon an Nordnordost (NNO, 2017) wird klar, dass die Zeichen ein dynamisiertes Eigenleben führen. Das Auge führt in die Irre, selbst der eigene Bezugspunkt der Erinnerung kann nicht mehr helfen. Die Form, ja selbst die Abstraktion eines Raumes lebt für sich selbst. Der Maler treibt die malerische Autonomie auf die Spitze, setzt seine künstlerische Zeichensprache gegen die Realität, und selbst deren Code hat er dabei längst aus dem Gleichgewicht gebracht. Vom Tisch an die Wand, wer´s glaubt, wird selig, Apfel, Spielkarten, Kugelschreiber, Schlangenform – man kann die Dinge auf den Bildern suchen, doch ihren Begriffen ist längst die Substanz entzogen und für andere Dinge genutzt, die scheinbar niemand versteht, aber doch irgendwie kurz erkennt und schnell wieder vergisst. Das Vergessen von Scheibitz´ Formenrepertoire ist eines der zentralen Wesentlichkeiten in der Arbeit des Künstlers. Die Erinnerungen spielen zumindest bei den zweidimensionalen Arbeiten schnell Streiche, entziehen sich so der Greifbarkeit – und sein Spiel zwischen Abstraktion und Figuration hört auch bei den haptischen Skulpturen nicht auf. Seine mitten im Raum stehende Kanne von 2003 verliert sich beispielweise im Rückblick in ein architektonisches Gespinst aus Form und Farbe, greifbar ist sie nicht, sie verbleibt als mögliche Form in einer möglichen Fläche in einem bestimmten Raum. Viele der Arbeiten, die wegen eines erwünschten Hinterleuchtens meist aus einer Farbmischung aus Öl, Vinyl und Farbpigmenten bestehen, könnten aus ihrer Zweidimensionalität befreit durchaus auch als theatralische Räume betrachtet werden. Das wäre eine interessante Bühnenstruktur.
Thomas Scheibitz: Masterplan\kino | bis 29.4. | Kunstmuseum Bonn | 0228 77 62 60
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