In England ist die Frau mit dem Metzgerbeil eine historische Berühmtheit. Am 14. März 1914 hieb Mary Richardson in einem von den Sicherheitskräften unbeobachteten Moment auf die nackte „Venus von Rokeby“ ein. Das Gemälde von Diego Velasquez zählt zu den bedeutendsten Schätzen der National Gallery in London. Die Spuren der Axthiebe sind noch heute erkennbar.
Kunst als Opfer von Fanatismus, ein Thema, das bis in unsere Tage aktuell geblieben ist. Die britische Konzeptkünstlerin EJ Major fragt in ihren Arbeiten stets nach dem Bild der Frau in der abendländischen Kultur. So präsentiert sie im Forum für Fotografie in Köln eine ganze Serie von Fotografien, die das Attentat der einstigen Suffragette aus zahlreichen Blickwinkeln ins Visier nimmt.
Wir sehen Mary Richardson angekleidet vor der nackten Venus. EJ Major nimmt sowohl die Rolle der Attentäterin als auch die der Venus ein, und sie schlüpft als eine Art Krankenschwester in die Position der Putte, die der Venus den Spiegel hält, in dem wir das gealterte Gesicht der Mutter der Künstlerin sehen. Wo verlaufen die Grenzen zwischen den Bildern und der Wirklichkeit? Eine Frage, die der Titel der Ausstellung „Playing and Reality“ aufwirft.
Auch auf andere Fragen gibt es nicht nur eine, sondern viele Antworten. So wollte EJ Major wissen, was Liebe ist. 7000 Postkarten warf sie in London und den West Midlands in Briefkästen. Jede enthielt eines der Fotos aus Bernardo Bertoluccis Film „Der letzte Tango in Paris“, die sie im Abstand von wenigen Sekunden geschossen hatte. 451 Karten kamen zurück. Auf ihnen fanden sich Antworten wie „Liebe ist … tief und dunkel“, „... eine evolutionäre Kuriosität“, „... es lohnt sich darauf zu warten“, „... weitermachen ohne ihn“.
Im Forum für Fotografie werden die Karten erstmals allesamt als Installation gezeigt, auf der man auch die Geschichte des Films verfolgen kann. Die Antworten enthalten im übrigen nicht nur sehnsüchtige, sondern auch zornige Kommentare. Voller Überraschungen steckt das Werk der 44-jährigen Konzept-Künstlerin, die in raffinierten Foto-Aktionen die Bilder der Weiblichkeit auch im Spektrum der Modewelt reflektiert. So rekonstruiert sie eine Serie von Polizeifotos, die den Verfall einer drogenabhängigen Frau dokumentierten und in der Zeitschrift Marie Claire als abschreckendes Beispiel veröffentlicht wurden. In dem EJ Major am eigenen, geschminkten Gesicht diesen Prozess nachvollzieht, zeigt sie, wie Schönheit zum Fetisch einer Mediengesellschaft wird, der die Würde des Einzelnen wenig gilt.
Die Ausstellung zitiert mit ihrem Titel „Playing and Reality“ den Titel einer bahnbrechenden Publikation des englischen Psychoanalytikers Donald Winnicott, die im Geburtsjahr der Künstlerin erschien. Darin beschreibt Winnicott die Kreativität als einen psychischen Überlebensmechanismus. Für EJ Major ist ihr Werk das Resultat dieses Mechanismus, ohne den sie ihre innere Balance nicht zu halten vermag.
Überleben durch die Reflexion der eigenen Rolle, das demonstriert sie konkret in einer Serie von Fotografien, in denen wir sie im historischen Gewand einer Suffragette auf den Straßen des heutigen Londons sehen. Sie stellt die Aktionen des radikalen Kampfs der Frauenrechtlerinnen nach, die sich etwa an die Zäune öffentlicher Gebäude ketteten. Gespielt wird hier mit Epochen und Themen, visuell anregend und zupackend in der konkreten, aber zugleich vieldeutigen politischen Aussage.
Mit dem Werk von EJ Major präsentiert das Forum für Fotografie eine Künstlerin, die in Deutschland unbekannt ist, aber international noch Aufsehen erregen wird. Denn EJ Major verbindet sinnliche Unmittelbarkeit mit inspirierenden Überlegungen zur bildlichen Darstellung des Menschen. Eine faszinierende Künstlerin, die präzise den Nerv unserer Gegenwart trifft und eine großartige Entdeckung des Forums. Das wird schon alleine an der Tatsache deutlich, dass man viel Zeit in dieser Ausstellung verbringt, die ein Kraftwerk der Inspiration darstellt.
„Playing and Reality – EJ Major“ | bis 6.3. | Forum für Fotografie, Schönhauser Str. 8 | www.forum-fotografie.info
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