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Stefan Herrmann
Foto: Nathan Dreesen

„Man darf nicht das falsche Leben leben“

31. Juli 2025

Regisseur und Produzent Stefan Herrmann über „Ich, Samsa“ am Theater der Keller – Premiere 08/25

In der Inszenierung von Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ spielt Paula Sophia Götz den Handelsreisenden Gregor Samsa, der eines Morgens als Käfer aufwacht. Ein Videotelefonat mit Stefan Herrmann, der sich während des Interviews mit seiner Familie in Australien aufhält.

choices: Herr Herrmann, sind Sie heute Morgen gut aus dem Bett gekommen?

Stefan Herrmann: Ja, relativ gut. Ich bin nicht zum Käfer geworden, auch wenn ich mich ein bisschen so gefühlt habe.

Konnten Sie sich während der Vorbereitung auf das Stück noch an den Vornamen der Hauptfigur, Gregor, erinnern?

Unbedingt. Ich liebe diese Erzählung von Franz Kafka. Ich habe das Stück schon mal mit vier Schauspielern in Bonn ganz klassisch als „Die Verwandlung“ gemacht, die dann ungefähr 13 Jahre lief. Daher habe ich mich immer wieder mit dem Text auseinandergesetzt.

Ich frage nur, weil mir der Name stets entfällt. Er leitet sich aus dem Altgriechischen „grēgoreō“ ab und bedeutet „auf der Hut sein“ oder „der Wachsame“. Haben Ihnen Franz Kafkas Erzählungen jemals Angst gemacht?

Wirklich Angst nicht ... (zögert) vielleicht aber doch. „Die Verwandlung“ habe ich als Jugendlicher mal gelesen. Das war eher ein Schrecken. Das hat mich jedenfalls extremst beeindruckt und lange beschäftigt. Kafka war für mich damals immer eine Art Hochkultur. Das war nicht mein Thema. Ein Lehrer hat mir dann das Buch gegeben und ich war von der Sprache und den damit einhergehenden Bildern geflasht.

Der philosophische Essay „Der Mythos Sisyphos“ von Albert Camus stellt den Protagonisten trotz seines götterbestimmten, grausamen Schicksals als ewiger Felsenstemmer als glücklichen Menschen dar. Ist eine positive Assoziation auch für Gregor Samsa bzw. andere Figuren von Kafka denkbar?

Für mich total. Ich habe Gregor Samsa über die Jahre verschieden wahrgenommen. Ich kann sehr viel mit dem Camus-Zitat anfangen. So verstehe ich Theaterarbeit und das Leben auch. Man rollt immer wieder den Stein hoch und denkt, man sei irgendwo angekommen, dann rollt das Scheißding wieder runter und du musst wieder von vorne anfangen. Als Künstler, der immer wieder versucht, seine Arbeit an den Mann zu bringen und nicht das Leben der Sicherheit gewählt hat, musst du immer wieder den Stein nach oben wälzen. Darin steckt für mich aber auch das Glück, sich zu fragen, was kommt als nächstes? So mühsam es auch immer erscheint, ist es auch ein Glückszustand. Wir haben das Stück im Untertitel „Von der Erlösung aus dem falschen Leben“ genannt. Das beschreibt den Zyklus, dass man in gewisser Weise erst mal sterben muss, damit man neugeboren wird. Daher ist es eine Metapher für etwas Positives. Gregor Samsa muss dieses alte Leben als Handlungsreisender, in dem er sich nicht wohlfühlt, aufgeben, um etwas Neues zu beginnen.

Warum fürchten sich die Menschen mehr vor Kerbtieren, beispielsweise Käfern, als vor Seepferdchen, Möpsen oder Walen?

Weiß ich gar nicht, warum man sich davor so fürchtet. Wir haben uns ja im Vorfeld viele Gedanken gemacht, bevor wir als Familie nach Australien gegangen sind, weil es hier viele giftige Tiere gibt. In dem Haus, in dem wir wohnen, laufen tatsächlich sehr große Kakerlaken herum und bringen meine Tochter zum Ausflippen. Ist es das Haarige oder Eklig-Braune, vielleicht auch, dass sie so unglaublich schnell sind und in Verbindung mit etwas Schmutzigem und Gefährlichem gebracht werden? Ich fange die Tiere jedenfalls in einem Glas ein und bringe sie raus.

Sie inszenieren Kafkas Erzählung als Monolog und Kammerspiel. Wie integrieren Sie Samsas Familie und seinen Vorgesetzten?

Das erzählt alles Paula selbst. Ich mag die monologische Erzählweise. Die Schauspielerin kann dabei eine ganze Welt von Stimmen erklingen lassen. Das ist eine tolle Herausforderung für Paula.

Würden Sie uns etwas über das Bühnenbild und die Kostüme verraten?

Wir haben eine Schräge, circa vier mal fünf Meter, wie eine große Insel, die im dunklen Raum fast schwebt. Diese Insel repräsentiert das Zimmer von Samsa. Dort befinden sich abgeschrägte Möbel, die surreal wirken (Bühnenbild: Trixy Royeck, Anm. d. Red.). Das ist sehr spannend. Hier hat sich die Welt von Samsa auf den Kopf gestellt. Alles ist anders und sehr körperlich. Paula kann sich kaum aufrichten. Das liebe ich so sehr am Theater, wenn die Schauspieler:innen auf der Bühne nichts faken können. Paula muss sich wirklich an diesen bruchstückhaften Möbeln festkrallen, damit sie nicht runterrutscht und aus ihrer Welt fällt, die aus den Fugen gerät. Die Bühne steht wie verloren in dieser großen Halle. Samsa ist dabei alleine und auf sich zurückgeworfen. Uns hat es sehr gereizt, dieses Mal eine eher klassischere Kafka-Ästhetik, also in Schwarz-Weiß, zu inszenieren. Ein Chor aus jungen Leuten stellt dagegen die bunte, gegenwärtige Welt dar.

Welche darstellerischen Fähigkeiten bringt Paula Sophia Götz für die Rolle mit?

Paula ist unglaublich musikalisch. Sie ist eine ausgebildete Sängerin und hat, glaube ich, sogar Operngesang studiert. In Kafkas rhythmischer Sprache sind viele Bilder enthalten, die Paula hör- und sichtbar macht. Sie ist auch super-intelligent. Man muss diese Geschichte sehr intim erzählen, damit die Zuschauer:innen an der Story dranbleiben. Ich wusste, dass Paula diese Rolle packt.

Welchen Stellenwert nimmt die Livemusik von Benedikt Fuchs für die Produktion ein? Was hören wir da?

Es ist die ganze Zeit Musik zu hören, vor allem als Geräuschkulisse und Samples. Bennie reagiert auf das, was auf der Bühne passiert. Auch die Musik trägt dazu bei, dass sich alles verdichtet. Aber es gibt auch Momente der Stille.

Wie machen Sie das Werk von 1912 schmackhaft für Menschen des 21. Jahrhunderts, die an Horror und surreale Welten gewöhnten sind?

Für mich entsteht das alles über die Sprache. Da kann ich nicht mit dem Vorschlaghammer kommen. Es muss in den Köpfen entstehen. Jedes einzelne Beinchen, der gepanzerte Oberkörper oder der braune Saft, der aus dem Körper austritt, muss durch die Sprache entstehen und beim Publikum haften bleiben.

Was haben Sie aus der Beschäftigung mit dem Werk gelernt?

Um es auf den Punkt zu bringen: Man darf nicht das falsche Leben leben.

Ich, Samsa | 20.9. (P) 20 Uhr, 21.9. 18 Uhr (weitere Termine für Oktober, November und Dezember in Planung) | Theater der Keller | 0221 31 80 59

Interview: Thomas Dahl

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Premiere.