Also Angst. Die Furcht ist Start- und Endziel der Gedanken entlang ausgehöhlter Straßen, auf denen jeder Schritt Erschütterungen herbeiführt. Die Städte wanken. Das Land ist eine Leiche, die die Ernte nicht mehr einholen konnte und im wilden Bach ertrunken ist. Im Weltenherbst knipsen die Menschen in ihren Zimmern die Dunkelheit an. Die Gespräche werden zu einem Murmeln, verstummen bald. Innere Monologe füllen Bücher, die nie erscheinen werden.
Hans Falladas 1947 publizierter Roman „Jeder stirbt für sich allein“ ruft zur Auflehnung gegen das schleichendeVerderbenin der Gesellschaft auf. Seine zunächst konformen Protagonist:innen werden nach dem „unerwarteten“ Kriegstod des einzigen Sohnes zu überzeugten Widerstandskämpfer:innen gegen das nationalsozialistische Regime und sind bereit, für ihre Postkarten mit Appellen gegen den Führer das eigene Leben zu lassen. Die Handlung basiert auf der Geschichte eines denunzierten Berliner Ehepaares, das Anfang der 1940er Jahre systemfeindliche Botschaften in Treppenhäusern auslegte. Dabei kann der Stoff auch als Überlebensgeschichte verstanden werden.
Regisseur Stefan Hermann („Ich. Samsa“, Theater der Keller) bringt Falladas Roman im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf den Weg: In einem Audiowalk folgt das Publikum mit grünleuchtenden Kopfhörern dem Ehepaar Anna und Otto Quangel vom Kölner Stadtmuseum durch die abendliche Metropole hin zu einem unbekannten Ziel. Die beiden Figuren sind manchmal auktoriale Erzähler:innen, führen an anderen Stellen Selbstgespräche oder kurze Dialoge. Zudem sind Rückblicke von Opfern und Zeitzeugen in die Story eingebunden. Die Theatergäste werden selbst zu Mitläufern. Im Zuge diverser Stopps bleibt Zeit, Geschehenes zu reflektieren, über Verantwortung zu sinnieren, sich Auskunft über die eigenen Normen von Menschlichkeit zu geben. In einem komplexen, jedoch stets nachvollziehbaren Geflecht aus Schauspiel, Dokumentation und bewusstseinserweiterndem Roadtrip abseits jeglicher Erkenntnisromantik zeigen Herrmann und sein Ensemble Nebenstraßen auf, die Möglichkeiten der Auflehnung gegen vermeintlich unverrückbare Zustände bieten. Auch umgeben von den Geräuschen der Stadt bleibt das rund 90-minütige Stück ein Kammerspiel, in dem stille Würde und Einfühlsamkeit Hauptrollenbekleiden.
Dennoch Angst. Auf einer gewaltigen Bühne links und rechts des Rheins verbinden sich in den Schattentheatern der heraufziehenden Nacht die Schicksale der Stückfiguren mit umherstreifenden Gestalten und Gedanken über die erfolgreich vereitelten Waffenruhen der eigenen inneren Kriege. Hier, mitten unter einer Million schlagender Herzen, ist und bleibt der Mensch allein. Umso beunruhigender wirkt da das Stück um die Unterdrückung durch die Obrigkeit. Lisa Bihl, Jonas Baeck, Alana Polak, Eva Majbur spielen ihre Rollen nicht, sie leben sie – und senden mit ihrem Gang der Erinnerungen ein Zeichen an die Vergessenden: Jetzt und nur jetzt ist die Zeit!
Jeder stirbt für sich allein | P: The Beautiful Minds | 31.10. 19.30 Uhr, 1.11. 19.30 Uhr, 2.11. 18 Uhr (weitere Termine in Planung) | Treffpunkt: Kölnisches Stadtmuseum, Minoritenstraße 13, 50667 Köln | 0221 95 22 708
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

„Wir führen keine Monster vor“
Regisseurin Nicole Nagel über „Aufruhr der Stille #MeTooInceste“ am Orangerie Theater – Premiere 10/25
Das Ende der Herrlichkeit
„Der Fall Ransohoff “ am Orangerie Theater – Theater am Rhein 02/25
„Es geht schlichtweg um alles“
Regisseur Marcus Krone und Schauspielerin Kristina Geßner über „Am höchsten Punkt“ in der Orangerie – Premiere 01/25
„Die Hoffnung muss hart erkämpft werden“
Regisseur Sefa Küskü über „In Liebe“ am Orangerie Theater – Premiere 11/24
Keine Macht den Drogen
„35 Tonnen“ am Orangerie Theater – Prolog 10/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24
Getanzter Privilegiencheck
Flies&Tales zeigen „Criminal Pleasure“ am Orangerie Theater – Prolog 09/24
Wege aus der Endzeitschleife
„Loop“ von Spiegelberg in der Orangerie – Theater am Rhein 04/24
Das Theater der Zukunft
„Loop“ am Orangerie Theater – Prolog 04/24
Musik als Familienkitt
„Haus/Doma/Familie“ am OT – Theater am Rhein 03/24
Falle der Manipulation
„Das politische Theater“ am OT – Theater am Rhein 02/24
„Wir wollten die Besucher:innen an einem Tisch versammeln“
Subbotnik zeigt „Haus / Doma / Familie“ am Orangerie Theater – Premiere 02/24
„Ein armes Schwein, aber auch ein Täter“
Regisseur Hans Dreher und Schauspielerin Laura Thomas über „Laios“ am Theater im Bauturm – Premiere 11/25
Gegen sich selbst antreten
„Fünf Minuten Stille“ am Kölner FWT – Theater am Rhein 10/25
Utopie auf dem Rückzug
Bertha von Suttners „Die Waffen nieder“ am Theater Bonn – Prolog 10/25
Muttärr! Oder: Dschungelbuch in Ulm
„Man kann auch in die Höhe fallen“ am Theater Der Keller – Auftritt 10/25
Die Moralfrage im Warenhaus
„Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ am Schauspiel Köln – Prolog 09/25
Schreib dich frei!
„Botin“ in der Alten Versteigerungshalle auf dem Großmarkt – Theater am Rhein 09/25
„Was kann eine neue Männlichkeit sein?“
Nicola Schubert über ihr Stück „To #allmen“ an Groß St. Martin – Premiere 09/25
Wohin, David?
„Mein Onkel David“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 08/25
Glücklich ruinieren
Das Nö Theater mit „Monopoly“ im Kölner Kabarett Klüngelpütz – Auftritt 08/25
Wie der Hund mit Angst spielt
„Holmes & Watson“ beim NN Theater Freiluftfestival – Prolog 08/25
„Man darf nicht das falsche Leben leben“
Regisseur und Produzent Stefan Herrmann über „Ich, Samsa“ am Theater der Keller – Premiere 08/25
Vergessenes Weltwunder
„Mein Freund, der Baum, sieht rot“ am Casamax Theater – Theater am Rhein 07/25