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Lisa Bihl (r.) und Alana Polak in „Jeder stirbt für sich allein“
Foto: Thomas Dahl

Von der Aufgabe des Denkens

30. Oktober 2025

Audiowalk „Jeder stirbt für sich allein“ in Köln – Auftritt 11/25

Also Angst. Die Furcht ist Start- und Endziel der Gedanken entlang ausgehöhlter Straßen, auf denen jeder Schritt Erschütterungen herbeiführt. Die Städte wanken. Das Land ist eine Leiche, die die Ernte nicht mehr einholen konnte und im wilden Bach ertrunken ist. Im Weltenherbst knipsen die Menschen in ihren Zimmern die Dunkelheit an. Die Gespräche werden zu einem Murmeln, verstummen bald. Innere Monologe füllen Bücher, die nie erscheinen werden.

Hans Falladas 1947 publizierter Roman „Jeder stirbt für sich allein“ ruft zur Auflehnung gegen das schleichendeVerderbenin der Gesellschaft auf. Seine zunächst konformen Protagonist:innen werden nach dem „unerwarteten“ Kriegstod des einzigen Sohnes zu überzeugten Widerstandskämpfer:innen gegen das nationalsozialistische Regime und sind bereit, für ihre Postkarten mit Appellen gegen den Führer das eigene Leben zu lassen. Die Handlung basiert auf der Geschichte eines denunzierten Berliner Ehepaares, das Anfang der 1940er Jahre systemfeindliche Botschaften in Treppenhäusern auslegte. Dabei kann der Stoff auch als Überlebensgeschichte verstanden werden. 

Regisseur Stefan Hermann („Ich. Samsa“, Theater der Keller) bringt Falladas Roman im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf den Weg: In einem Audiowalk folgt das Publikum mit grünleuchtenden Kopfhörern dem Ehepaar Anna und Otto Quangel vom Kölner Stadtmuseum durch die abendliche Metropole hin zu einem unbekannten Ziel. Die beiden Figuren sind manchmal auktoriale Erzähler:innen, führen an anderen Stellen Selbstgespräche oder kurze Dialoge. Zudem sind Rückblicke von Opfern und Zeitzeugen in die Story eingebunden. Die Theatergäste werden selbst zu Mitläufern. Im Zuge diverser Stopps bleibt Zeit, Geschehenes zu reflektieren, über Verantwortung zu sinnieren, sich Auskunft über die eigenen Normen von Menschlichkeit zu geben. In einem komplexen, jedoch stets nachvollziehbaren Geflecht aus Schauspiel, Dokumentation und bewusstseinserweiterndem Roadtrip abseits jeglicher Erkenntnisromantik zeigen Herrmann und sein Ensemble Nebenstraßen auf, die Möglichkeiten der Auflehnung gegen vermeintlich unverrückbare Zustände bieten. Auch umgeben von den Geräuschen der Stadt bleibt das rund 90-minütige Stück ein Kammerspiel, in dem stille Würde und Einfühlsamkeit Hauptrollenbekleiden.

Dennoch Angst. Auf einer gewaltigen Bühne links und rechts des Rheins verbinden sich in den Schattentheatern der heraufziehenden Nacht die Schicksale der Stückfiguren mit umherstreifenden Gestalten und Gedanken über die erfolgreich vereitelten Waffenruhen der eigenen inneren Kriege. Hier, mitten unter einer Million schlagender Herzen, ist und bleibt der Mensch allein. Umso beunruhigender wirkt da das Stück um die Unterdrückung durch die Obrigkeit. Lisa Bihl, Jonas Baeck, Alana Polak, Eva Majbur spielen ihre Rollen nicht, sie leben sie – und senden mit ihrem Gang der Erinnerungen ein Zeichen an die Vergessenden: Jetzt und nur jetzt ist die Zeit!

Jeder stirbt für sich allein | P: The Beautiful Minds | 31.10. 19.30 Uhr, 1.11. 19.30 Uhr, 2.11. 18 Uhr (weitere Termine in Planung) | Treffpunkt: Kölnisches Stadtmuseum, Minoritenstraße 13, 50667 Köln | 0221 95 22 708

Thomas Dahl

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