
Im Schatten des Orangenbaums
Deutschland, Zypern, Palästina, USA, Jordanien, Vereinigte Arabische Emirate 2025, Laufzeit: 145 Min., FSK 12
Regie: Cherien Dabis
Darsteller: Cherien Dabis, Adam Bakri, Saleh Bakri
Episches humanistisches Drama
Fremd im eigenen Land
„Im Schatten des Orangenbaums“ von Cherien Dabis
Am 14. Mai 1948 wird der israelische Staat ausgerufen, was unmittelbar den Krieg mit den umliegenden arabischen Staaten nach sich zieht. Was den einen zur Heimat wird, bedeutet anderen Vertreibung: 700.000 Palästinenser:innen sind betroffen. Unter ihnen der Familienvater Sharif (Adam Bakri), der in Tel Aviv-Jaffa eine Orangenplantage unterhält. Seine Frau und die Kinder, darunter sein Sohn Salim, fliehen zum Onkel. Sharif wird von israelischen Soldaten in seiner Orangenplantage aufgegriffen und in ein Arbeitslager gesteckt. Dreißig Jahre später leidet der inzwischen greise Sharif unter Spätfolgen und lebt bei der Familie seines Sohnes Salim (Saleh Bakri) im besetzten Westjordanland. Das Familienleben ist nachhaltig geprägt von Vertreibung, Besatzung, Trauma und alltäglicher Erniedrigung. 1988 schließlich gerät Noor, Salims Sohn, in eine blutige Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und israelischen Soldaten. Ein Schicksalsschlag zwingt Salim und seine Frau Hanan (Regisseurin Cherien Dabis) zu einer Entscheidung, bei der tief verankerter Schmerz den inneren Frieden sucht.
Familie, kulturelle Identität und Zugehörigkeit sind prägende Themenfelder im Gesamtwerk der US-amerikanisch-palästinensischen Regisseurin Cherien Dabis, die hier auch als Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin verantwortlich zeichnet. In ihrem epochalen, sieben Jahrzehnte umspannenden Meisterwerknimmt sie nun eine Perspektive ein, die sie in der westlichen Medienlandschaft seit Jahrzehnten unterrepräsentiert sieht: die palästinensische. Ihre Protagonisten sind Opfer von Besatzung und Unterdrückung, die meisten israelischen Soldaten hier agieren vordergründig erniedrigend und grausam. Dabis erzählt von der Geschichte Palästinas. Dabei liegt es ihr allerdings fern, Fronten zu verhärten. Der palästinensische Blick bildet den Rahmen dieser Erzählung, doch dieser Blick weitet sich und mündet weder in aufgeheiztem Politikum noch in toxischer Verhärtung, sondern in einem feinfühligen Blick auf die Menschen. Und genau das ist, was Kunst ausmacht, wenn sie aus dem Beispielhaften heraus Universelles erzählt. Und um das Universelle geht es Dabis.
„Im Schatten des Orangenbaums“ weicht über seine 145 Minuten klug und berührend Begriffe wie Täter und Opfer auf. Die schicksalsgeprüften Figuren sinnen am Ende nicht auf Rache, sie suchen den Sinn hinterm Leid. Nicht Aggression entpuppt sich hier als die Form des Widerstands, sondern Menschlichkeit. Die von Gewalt, Demütigung und Schuldgefühl getriebenen Figuren streben danach, den Schmerz und den Hass zu überwinden. Am Ende kulminiert alles im Herzen. Erhaben. Versöhnlich. Wahrhaftig.
Ähnlich wie Mascha Schilinskis „In die Sonne schauen“ stehen die Geschichten der Figuren im Kontext der Schicksale ihrer Vorfahren, auch Cherien Dabis widmet sich dem vererbten Trauma. Auch Dabis bewegt sich anmutig und poetisch durch die Epochen, behält dabei Übersicht und Spannung und findet Inspiration in biografischen Kontexten. So wurde das Skript nicht zuletzt von der Biografie ihres Vaters inspiriert, der einen Großteil seines Lebens im Exil verbracht hat, der vor den Augen seiner Kinder erniedrigt wurde, der ins Exil gehen musste.
Der in Deutschland vergleichsweise profan betitelte „Im Schatten des Orangenbaums“ heißt im Original ungleich vielschichtiger „All That’s Left Of You“ und fragt: Was bleibt? Es geht Dabis um Identität. Um die Suche nach Identität, wenn einem die Heimat, Erdung, Sicherheit, wenn Existenzielles entzogen wurde. Geradezu wundersam geht dieses Drama im Kinomonat November mit Ameer Fakher Eldins mitreißendem „Yunan“ Hand in Hand. Auch hier irrt ein Entwurzelter verloren durch die Identitätsfindung. Beide Dramen fächern anmutig auf, inwiefern Heimat mehr sein kann als ein Ort. Mehr als ein Orangenbaum. Hier wie dort findet sich Identität in Sprache, Dialog, im Wort. In Abstraktion und Austausch. Im Schöpferischen. Im Konstruktiven. In Erinnerung. In Phantasie und Vorstellungskraft. Im Gedicht. In einer Geschichte. In einem Film.
(Hartmut Ernst)

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