Wer ein Gesicht anschaut, darf sich nicht wundern, wenn es zurückschaut. Eine alte Regel, deren dialogische Struktur Thomas Thorausch geschickt für die Jahresausstellung zu nutzen weiß, die das Tanzmuseum aus den Beständen des Deutschen Tanzarchivs in Köln präsentiert. „Im Angesicht der Moderne“ lautet der Titel der Schau, die danach fragt, wie es der Tanz mit der Moderne hält bzw. wie sehr sich die Moderne von der neuen Ästhetik des Tanzes inspirieren ließ. Im Untertitel wird denn auch auf „Die Magie des Tanzes zwischen 1900 und 1932“ hingewiesen. Das ist die Kernzeit der Moderne, aber man darf durchaus fragen, wann die Moderne beendet war, oder ob wir nicht im Grunde immer noch intensiv an ihren Errungenschaften partizipieren?
Die Befreiung des Körpers durch neue Bewegungsmuster, die in all ihrer Lust ein verändertes Lebensgefühl ausdrücken, zeigen schon die frühen Fotografien. Im Frühjahr 1918, als der Erste Weltkrieg noch nicht beendet war, sieht man in einer Fotoserie eine junge Tänzerin verzückt durch die freie Natur hüpfen. Die Bühnenräume verändern sich, das Publikum wird angelockt, soll sich mit den Akteuren vermischen. Die Kostüme nehmen die Impulse des Expressionismus’ in Malerei und Film auf. Zugleich zeigen sich die anderen Künste fasziniert von den neuen Möglichkeiten des Ausdruckstanzes; in Zeichnungen und Texten von Ernst Ludwig Kirchner findet der Taumel des Glücks in der Bewegung seine Entsprechung in Farbe und Linie.
Thorausch staffelt kleine Kabinettsituationen zu einem verschachtelten Gang hintereinander. Schon vom Eingang aus kann man erkennen, dass sie auf eine Installation zulaufen, in der die ersten Zeilen von Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ zitiert werden. Mit dem Jahr 1933 findet sich die Moderne in einem bösen Traum wieder, der Realität ist. Die Maske aus Mary Wigmans „Hexentanz“ hat das Spiel mit dem Grauen schon ahnungsvoll eingeübt. Die Moderne, die eine autoritär verknöcherte Gesellschaft für einige Zeit mit frischen Ideen durchpusten konnte, wird in die Mottenkiste verbannt. Die Ausstellung ist damit aber nicht zu Ende, sondern besteht auch aus einem zweiten Weg, der wieder zurück führt – jetzt mit dem Blick von Künstlern wie Dore Hoyer, Mary Wigman oder Kurt Jooss auf die frühe Moderne, die in den fünfziger Jahren überlebt wirkt. Konnte man zunächst die Fotos betrachten, die Albert Renger-Patzsch 1932 von Jooss’ denkwürdiger Choreographie „Der grüne Tisch“ schoss, so gibt es nun die bewegten Fernsehbilder der Inszenierung von 1962 zu sehen. Mary Wigman kann man beim Unterrichten erleben, und auf diesem Parcours der bewegten Bilder wird noch einmal aus klug arrangierter Distanz danach gefragt, was uns denn nun die Moderne wert ist. Wo scheint sie überholt und wo übt sie noch Einfluss auf den Tanz unserer Tage aus? Das ist das Faszinierende an dieser Präsentation: Dass man subtil dazu aufgefordert wird, das Vergangene im Gegenwärtigen zu entdecken.
„Im Angesicht der Moderne“ bis 12.9. 2012 | Tanzmuseum des Deutschen Tanzarchivs Köln, Im Mediapark 7 | täglich außer Mi. 14-19 Uhr | Tel.: 0221 88 89 54 44 | www.sk-kultur.de/tanz/tanzmuseum/
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