Es mag den Kölner Lokalpatrioten schmerzen, aber türkischer Pop hatte seinen Durchbruch nicht in der Domstadt, sondern ein paar Kilometer weiter rheinabwärts. 1993 eröffnete in einer kleinen Seitenstraße der Düsseldorfer Altstadt das Abone, der erste Club in NRW, der sich hauptsächlich an ein junges türkisches Publikum richtete. Konzerte mit türkischer Musik gab es schon länger, aber ein Club? Das war neu und der Beginn einer langen Erfolgsgeschichte – nicht nur im Rheinland. „Ab 1994 kann man von einer türkischen Musikszene in Deutschland sprechen“, erzählt Levent Aydin. „Vorher war es für türkische Kids schwierig, in Clubs zu gehen.“ Seit den Anfangstagen steht Aydin als DJ LA hinter den Plattenspielern. In den späten 80ern hat er angefangen, HipHop und House aufzulegen, seit Mitte der Neunziger auch türkischen Pop. Mittlerweile veranstaltet er auch Partys und Konzert-Tourneen. Denn die türkische Musikszene ist schnell gewachsen. In Köln eröffnete 1994 das Hadigari, heute tummeln sich Fans von türkischem Pop jedes Wochenende auf den Ringen oder gehen zu Großveranstaltungen mit weit über tausend Besuchern ins Palladium.
NUR WENN DIE SONGS EIN WENIG MELANCHOLISCHER WERDEN, WIRD AUF TRADITIONELLE HARMONIEN AUS DER TÜRKEI ZURÜCKGEGRIFFEN
Wobei „türkischer Pop“ ein wenig in die Irre führt. Wer sich aktuelle Produktionen anhört, würde kaum einen Unterschied zu kommerziellen R‘n‘B-Veröffentlichungen aus den USA bemerken. Die Beats sind synkopisch, die Synthies flattern in den oberen Frequenzbereichen, selbst die omnipräsente Software Autotune, die dem Gesang eine mechanische Note verleiht, ist deutlich herauszuhören. Nur gesungen wird weiterhin auf Türkisch. „Die Produzenten haben ein kommerzielles Ohr“, beschreibt Aydin die Arbeitsweise seiner Kollegen, „nur wenn die Songs ein wenig melancholischer werden, dann greifen sie auf traditionelle Harmonien aus der Türkei zurück, um Sehnsucht nach der Heimat auszudrücken.“ Produziert wird dieses Heimweh in Deutschland oder gleich in der Türkei. Dort sitzen die relevanten Plattenfirmen, die den Sound dann wieder nach Deutschland reimportieren – eine transnationale Kultur par excellence. Und so ist dort auch kein Platz für religiös motivierte Vorstellungen von Reinheit. Stattdessen dominiert ein pragmatischer Umgang mit dem eigenen Glauben. „Ich würde keine politische oder religiöse Musik auflegen“, meint Aydin. „Was aber nicht bedeutet, dass türkische Partyleute keine religiösen Feste begehen. Aber das ist kein Widerspruch zum Feierngehen.“ So kommt es trotzdem auch kaum zu Konflikten zwischen strenger religiös gesinnten Türken und den weltlicher gesinnten Clubbesuchern. „Da herrscht gegenseitiger Respekt, auch wenn vieles ein Generationenproblem ist. Unsere Eltern sind nur mit religiösen Büchern aufgewachsen, meine Generation hat ein größeres Wissen über die Welt“, beschreibt Levent Aydin seine Sicht der Dinge. Aber auch dieser Konflikt ist nicht für die Ewigkeit. In einzelnen Discos wurden schon türkische Jugendliche in Begleitung ihrer Eltern gesichtet.
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